Noch immer hören wir von Software-Anbietern und auch aus der öffentlichen Verwaltung, dass es eine 100-prozentige Barrierefreiheit ohnehin
nicht gäbe. Das soll davon ablenken, dass Hausaufgaben nicht gemacht wurden. Dabei verlangt der Gesetzgeber absolute Barrierefreiheit gar nicht.
Zunächst klären wir, ob eine 100-prozentige Barrierefreiheit
möglich ist und dann, was der Gesetzgeber dazu sagt.
Wahrnehmbarkeit
Vor ein paar Jahren haben die Interessensverbände konsequent begonnen, von Menschen mit Behinderungen
zu sprechen. Der Plural soll deutlich machen, dass eine betroffene Person in der Regel durch mehr als eine Behinderung beeinträchtigt wird.
Nehmen wir Wahrnehmbarkeit
, das erste Prinzip der Barrierefreiheit: Es fordert, dass Menschen Inhalte mit vorhandenen Sinnen wahrnehmen können. Wer also nicht sehen kann, lässt sich Inhalte vorlesen (Sinn Hören), oder tastet sie mit der Braille-Zeile ab (Sinn Fühlen). Was, wenn zwei Sinne nicht vorhanden sind? Oder der Mensch auf fremde Hilfe angewiesen bleibt? Es sind also Kombinationen von Behinderungen denkbar, die sich nicht mehr auffangen lassen.
Vermutete Barrierefreiheit
Auf Bundesebene legt die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) die Anforderungen fest. Die meisten Ländernormen verweisen darauf. In Paragraf 3 Anzuwendende Standards steht (meine Hervorhebung):
(1) Die in § 2 genannten Angebote, Anwendungen und Dienste der Informationstechnik sind barrierefrei zu gestalten. Dies erfordert, dass sie wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sind.
(2) Die Erfüllung der Anforderungen nach Absatz 1 wird vermutet, wenn diese Angebote, Anwendungen und Dienste harmonisierten Normen oder Teilen dieser Normen entsprechen […].
Der Gesetzgeber vermutet also Barrierefreiheit, wenn die konkreten Anforderungen der Harmonisierten Norm „EN 301 549“ erfüllt werden. Und dieser Standard lässt sich entlang seiner Erfolgskriterien bei jedem Angebot prüfen, dokumentieren und die dabei gefundenen Barrieren genauso beseitigen.
Eine 100-prozentige Barrierefreiheit ist gar nicht gefordert; sie taugt also auch nicht, um die notwendigen Selbsttests oder Zertifizierungen zu umgehen. Am besten ist es, bereits bei der Ausschreibung die notwendige Konformität einzufordern. Hier hilft der Vergabebaustein des Bundes.